Wer eine hochqualifizierte Ausbildung hat, ist kein Mindestlöhner

Bettina Hasselmeyer
Bettina Hasselmeyer

Interview
Dranbleiben

Susanne Osadnik

Bettina Hasselmeyer, Krankenschwester und Lehrkraft für angehende Pflegekräfte, über das antiquierte Image einer Florence Nightingale, das Bestreben, Theorie und Praxis besser aufeinander abzustimmen, und warum Krankenhäuser nicht länger auf Profit getrimmt werden sollten

Frau Hasselmeyer, Sie sind staatlich examinierte Krankenschwester und bilden schon seit vielen Jahren den Nachwuchs aus. Was hat sich seit Ihren eigenen Lehrjahren geändert?
Bettina Hasselmeyer: Fast alles. Angefangen damit, dass die Berufsbezeichnung »Krankenschwester« nicht mehr existiert. Mit dem Pflegereformgesetz, das seit Januar 2020 in Kraft ist, wurde der neue Beruf der Pflegefachfrau/-mann geschaffen. Aber auch schon vorher – in der Übergangszeit von Verabschiedung und Inkrafttreten des Gesetzes – sprach man nicht mehr von Krankenschwestern, sondern von Gesundheits- und Krankenpflegern und -pflegerinnen sowie Gesundheits- und Kinderkrankenpfleger- und pflegerinnen. Mit der Namensänderung ist auch eine inhaltliche Schwerpunktverlagerung einhergegangen: Während ich in meiner Ausbildung noch stark fächerorientiert gearbeitet habe – also  Anatomie, Psychologie, aber auch Rechtsfragen im Vordergrund standen und der pflegerische Anteil nur gering war, ist dieser Teilbereich heutzutage stark in den Fokus gerückt. Das war schon vor der aktuellen Pflegereform so. Konzentrierte man sich früher auf die medizinische Sicht aller Krankheiten, stehen jetzt die Pflegemodelle, deren Anwendung bestimmte Krankheiten erforderlich machen, im Mittelpunkt.

Ist das gut oder schlecht? Sie kennen ja sowohl die alte als auch die neue Ausbildungsrichtung …
Schwierige Frage. Vielleicht zeigt ein Beispiel, was sich beispielsweise positiv verändert hat. Hatte früher ein Patient Einschlaf- oder Durchschlafstörungen, verabreichte man ihm sofort eine Schlaftablette und das Thema war erledigt. Heutzutage werden die jungen Pflegekräfte dazu angehalten, zunächst einmal zu hinterfragen, woher die Schlaflosigkeit rührt – etwa aus der Angst vor der Operation, dem Krankenhaus im Allgemeinen, Zukunftssorgen oder was auch immer. Das ist eine fundamental andere Herangehensweise.

Der Gesetzgeber hat die drei bislang voneinander getrennten Berufszweige der Kranken-, Alten-, und Kinderkrankenpfleger zusammengeführt. Das Ziel dieser generalistischen Ausbildung ist es, mehr Flexibilität und bessere Karrierechancen zu ermöglichen. Ist das realistisch?
Die Pflegefachkräfte können aufgrund der vereinheitlichten Ausbildung theoretisch problemlos zwischen den einzelnen Versorgungsbereichen wechseln. Alle haben die gleichen Grundkenntnisse und können dadurch interdisziplinär eingesetzt werden. Tatsächlich wird man sich aber für den Job entscheiden, der die besten Rahmenbedingungen und das beste Gehalt bietet. Beides ist meist nicht in Altenheimen oder Tagespflegeeinrichtungen zu bekommen. Wir sehen auch immer wieder, dass junge Pflegekräfte sich an Zeitarbeitsfirmen wenden, wo man sich um sie reißt: examinierte Kräfte sind Mangelware und können auf bessere Bezahlung hoffen. Es ist also fraglich, ob sich dadurch alles zum Besseren wendet oder man dem Gesundheitssystem und auch den Pflegekräften nicht einen Bärendienst erwiesen hat. Was aus meiner Sicht aber tatsächlich eine entscheidende Verbesserung ist: Von jetzt an erhalten Auszubildende ein ganz gut dotiertes Ausbildungsgehalt. Und der vielleicht wichtigste Aspekt: Zum ersten Mal  sind vorbehaltliche Tätigkeiten der Pflegefachfrau/des Pflegefachmannes gesetzlich verbrieft. Dies ist ein zentraler Punkt, der die Professionalisierung der Pflege weiter vorantreiben kann. Unter anderem erheben Pflegefachkräfte den individuellen Pflegebedarf und stellen diesen fest. Sie organisieren, gestalten und steuern den Pflegeprozess. Die Qualität der Pflege wird von Pflegenden selbst gesichert.

Die relativ schlechte Bezahlung ist ein Punkt, der in der öffentlichen Wahrnehmung immer wieder von den Pflegekräften moniert wird. Stehen Gehalt und Arbeitsbelastung in Relation zueinander?
Das war eigentlich noch nie der Fall. Im ersten Berufsjahr verdient man rund 1500 Euro brutto – ein Grundgehalt, das man dann durch Schicht- und Wochenenddienste aufstocken kann. Aber wenn man schon die ganze Woche im Einsatz war, sind zusätzliche Schichten immer ein Mehr an Belastung. Und die Belastung ist ja im Laufe der Jahrzehnte stetig größer geworden – auch ohne Corona.

Deutschland ist der Weltmeister im Ausbeuten seiner Pflegekräfte. Laut statistischem Bundesamt kamen 2018 auf eine Pflegekraft im Durchschnitt 13 Patienten. In Großbritannien waren es 8,6 Patienten und in den USA nur 5,3 …
So fühlt sich das für die meisten Pflegekräfte auch an. Dazu kommt, dass man jeden Tag so viel Leid und Leiden sieht, das man mit in den Feierabend nimmt. Es ist ja nicht so, dass das spurlos an einem vorübergeht. Deshalb bräuchte man Zeit, um zu generieren. Die hat man aber nicht, wenn man fest verankert ist in einem System, das wie eine geölte Maschine jeden Tag funktionieren muss. Man hat aber auch nicht genügend Geld in der Tasche, um sich in der knappen Zeit, die bleibt, mit schönen Dingen zu belohnen.

Was ist Ihrer Erfahrung nach der häufigste Grund, wenn Pflegekräfte ihren Job hinschmeißen?
Die jungen Leute, die ich in den vergangenen Jahren ausgebildet habe, erzählen immer wieder, dass sie daran verzweifeln, im Arbeitsalltag nicht das anwenden zu können, was sie gelernt haben. Sie wünschen sich mehr Zeit für die Patienten, wollen sich um sie kümmern, haben aber in der Praxis  zu viel mit ärztlichen Tätigkeiten zu tun. Auf pflegeintensiven Stationen, beispielsweise mit post-operativen Fällen, freut man sich über jeden Feiertag, weil dann nicht operiert wird und mal Zeit bleibt, mal mit jemandem Duschen zu gehen. Für viele junge Pflegende kommt im Berufsalltag die Pflege zu kurz. Dafür hatten sie sich bei ihrer Berufswahl ja entschieden.

Was ist eigentlich dran an der Zahl, die immer wieder kursiert: Im Durchschnitt arbeiten Pflegekräfte nur gut vier Jahre in ihrem Beruf?
Die Zahl kenne ich auch, ohne dass ich sie belegen könnte. Aber aus meiner Erfahrung weiß ich, dass der Job sehr schlaucht und sich deshalb viele Pflegekräfte sehr früh etwas anderes suchen, wo sie weniger und vor allem sehr viel freier von engen Zeitplänen und mit weniger großer Verantwortung arbeiten können. Vor allem die jungen Frauen hörten früher zudem schon bald nach Abschluss der Ausbildung auf, weil sie Kinder bekommen wollten. Ob das auch jetzt noch so ist, weiß ich nicht. Wir verfolgen die Lebenswege der Absolventen nicht so intensiv.

Im vergangenen Jahr wurden Ärzte und Pflegekräfte beklatscht. Heute tut das niemand mehr, obwohl sie jetzt schon wieder viele Monate lang unter Hochdruck arbeiten müssen – und gerade zurzeit sieht es nicht nach einer Besserung aus. Warum ist das so?
Das Klatschen hat den Menschen in den Kliniken schon gut getan. Aber substanziell wird sich nichts ändern. Das Klatschen wird keinen Nachhall haben, weil wir Menschen uns nun mal nicht ständig Gedanken machen wollen, wie tödlich Corona ist, wie schlimm es wäre, selbst auf der Intensivstation zu landen. Schon vor der Pandemie hat sich niemand gern mit der Möglichkeit beschäftigt, selbst Patient zu werden. Man schiebt die unangenehmen Dinge nun mal gern an die Seite, und dazu gehört auch die Situation in Krankenhäusern. Außerdem assoziieren die meisten Menschen Krankenschwestern und Pflegekräfte immer noch mit dem Typus der Florence Nightingale, also jener britischen Krankenschwester, die im vergangenen Jahrhundert die Basis für moderne Krankenpflege gelegt hat. Selbst heutzutage schwingt diese Tonart des aufopfernden pflegenden Menschen mit, wenn man an Pflegekräfte denkt. Altruismus muss man sich aber leisten können.

Was würden Sie ändern, wenn Sie könnten?
Wir brauchen auch in der Pflege dringend einen Strukturwandel. Wenn er für so viele Lebens- und Arbeitsbereiche gilt, warum nicht auch in diesem Bereich? Zunächst muss der Patientenschlüssel verbessert werden – also viel weniger Patienten pro Pflegekraft. Dann sollte auch nicht mehr über Mindestlöhne in der Pflege gesprochen und verhandelt werden: Wer eine hochqualifizierte Ausbildung hat, ist kein Mindestlöhner. Das ist an sich schon ein Unding. Aufgrund der hohen Arbeitsbelastung wäre es auch gut, über andere Schichtsysteme nachzudenken, beispielsweise eine Woche arbeiten, eine Woche Pause. In anderen Extremberufen gibt es das längst. So hat man eine echte Chance, sich zu erholen und wieder mit vollem Einsatz seinen Dienst anzutreten – und sich darauf zu freuen, was beim direkten Umgang mit kranken Menschen enorm wichtig ist.

Da hören wir schon das Politiker-Argument der nicht zu bewältigenden Kosten ...
Wir sehen ja gerade zurzeit, was plötzlich alles möglich und finanzierbar ist. Ein verhältnismäßig reiches Land wie Deutschland muss sich seine medizinische Versorgung mehr kosten lassen als bisher. Wenn die Pandemie ein paar Jahre später ausgebrochen wäre, hätten wir vermutlich auch noch viel weniger Krankenbetten gehabt – ebenso wie andere Länder, die massiven Abbau betrieben haben und jetzt sehen, dass das langfristig keine gute Idee war. Es muss das Anliegen des Staates sein, seine Bevölkerung adäquat versorgen zu können. Dazu passen Kliniken, die auf Profit getrimmt sind, nun mal nicht.


Das Interview führte
Susanne Osadnik,
Chefredaktion GCG