Wer immer hart am Anschlag agiert, zahlt einen hohen Preis

Dr. Georg Oberhollenzer
Dr. Georg Oberhollenzer © Manuel Kottersteger

Interview
Dranbleiben

Susanne Osadnik

Im Pustertal bereitet man sich auf die Zeit nach Corona vor und will vor allem eines nicht mehr: Weitermachen wie bisher. Denn einer der wichtigsten Hotspots im Alpenraum stößt langsam an seine Grenzen. Die Pandemie hat wichtige Verbesserungspotenziale deutlich offenbart. Die Südtiroler wollen jetzt nach vorne denken. Dr. Georg Oberhollenzer, Geschäftsführer der Raiffeisenkasse Bruneck, über die Spirale der Überzogenheit, einen Kurswechsel, der von allen getragen wird, und wie man der Gefahr des Overtourismus entgehen will

Herr Dr. Oberhollenzer, für gewöhnlich verbinden Unternehmen und Banken vor allem Geld. Der eine hat es; der andere erhält es in Form von Krediten. Sie haben offensichtlich ein weitergehendes Verständnis dieser Beziehung. Hat erst die Corona-Krise diese Sichtweise zutage gefördert?
Georg Oberhollenzer: Keineswegs. Als genossenschaftliche Bank tragen wir grundsätzlich auch volkswirtschaftliche Verantwortung. Wir fühlen uns den Grundwerten des Genossenschaftsgründers Wilhelm Raiffeisen verpflichtet, die unter anderem auch auf den Gedanken der Solidarität und der Hilfe zur Selbsthilfe beruhen. Insofern sind wir schon immer mehr als eine reine Bank gewesen. Wir kümmern uns um die örtliche Gemeinschaft, unterstützen Vereine, sorgen dafür, dass die Unternehmen vor Ort Bestand haben. Als kleines Bankhaus mit 150 Mitarbeitern sind wir für insgesamt sieben Gemeinden tätig, in denen rund 32.000 Menschen leben. Davon sind 24.000 unsere Kunden. Gut 60 Prozent aller Kredite laufen über unsere Bank. Das heißt: Hier kennt man sich. In Mailand mag man unsere Bodenständigkeit belächeln, aber in Südtirol sind wir gemeinsam mit unseren Kunden das Fundament des Wohlstands in der Region.

Wie entscheidend ist die Tatsache, dass Sie keine Aktionäre bedienen müssen?
Vermutlich ist das unser größter Vorteil gegenüber anderen Geldhäusern. Wir verfügen zurzeit über rund 200 Millionen Euro an Eigenkapital. Das ist doppelt so viel wie der Gesetzgeber verlangt. Dass wir eine solche Summe vorweisen können, liegt darin begründet, dass wir früher jede Lira, heutzutage jeden Euro über Jahrzehnte hinweg thesaurierend arbeiten lassen konnten. Das versetzt uns jetzt auch in die komfortable Situation, über einen gut gefüllten Notstandfonds zu verfügen.

›Die Hoteliers stehen untereinander in Konkurrenz und spüren den Druck, immer mehr anbieten zu müssen.‹

Wo sind die Mittel des Fonds schon zum Einsatz gekommen?
Im vergangenen Frühjahr stellte sich ja schnell heraus, dass auch Südtirol  besonders schlimm von der Pandemie betroffen war. Und damals fehlte es an allem: Schutzkleidung, Schutzmasken, Desinfektionsmittel – aber vor allem an Beatmungsgeräten. Deshalb wollten wir so schnell wie möglich dem Krankenhaus Bruneck Mittel zur Verfügung stellen, um entsprechende Geräte anschaffen zu können. Leider kam uns unsere Antikorruptionsgesetzgebung dazwischen. Danach darf das Krankenhaus kein Geld annehmen. Letztendlich haben wir als Bank die Geräte gekauft und dem Krankenhaus übergeben.

Sie haben auch schon früh über die Zeit nach Corona nachgedacht …
Ich bin in der Tat durch einen Artikel von Matthias Horx, dem Chef des Zukunftsinstituts, dazu angeregt worden. Er sprach im vergangenen Jahr schon sehr früh darüber, dass wir alle Visionen für die Zeit nach der Pandemie benötigen – egal, wie lange es dauert, das Virus unter Kontrolle zu bekommen. Es kommt der Zeitpunkt, an dem man eine Perspektive braucht. Und da war mir klar, dass eine solche Perspektive nur von uns selbst ausgehen kann. Wir hier in Südtirol müssen uns überlegen, ob wir nach Corona so weitermachen wie bisher oder die Weichen für etwas anderes stellen wollen.

Was spricht gegen ein »weiter so«, dem die meisten Menschen ohnehin entgegenfiebern?
Wir haben auch schon vor der Pandemie darüber nachgedacht, wie es weitergehen soll. Dazu lohnt ein Blick zurück auf die Zeit, als das Pustertal noch eine arme, bäuerlich geprägte Region war, die vom Kartoffelanbau lebte. Heutzutage sind wir eine der reichsten Regionen im Alpenraum. Hier hat binnen 60 Jahren eine tiefgreifende Veränderung stattgefunden. Wir sind ein Wintersport-Hotspot, der jährlich viele Tausende Besucher zusätzlich anzieht, beispielsweise, wenn in Antholz die Biathlon-Wettbewerbe stattfinden. Die Hoteliers stehen untereinander in Konkurrenz und spüren den Druck, immer mehr anbieten zu müssen. Da hat sich so mancher übernommen, was durch den Covid-19-Ausbruch deutlich wurde: Wer immer hart am Anschlag agiert, zahlt einen hohen Preis. Selbst die profitabelsten Betriebe standen innerhalb von drei bis vier Wochen beinahe vor dem Ende, weil sie kaum finanzielle Reserven hatten.  

Hat Corona in Südtirol einen schon längst überfälligen Denkprozess beschleunigt?
Das hoffen wir zumindest. Im vergangenen Sommer liefen wir Gefahr, sehr schnell wieder in den alten Trott zurückzufallen. Nach der Schockstarre gegen Ende des Winters und dem Ausfall des Ostergeschäfts schwamm der Tourismus im Sommer schnell wieder auf der Erfolgswelle – und alle dachten: Das war es jetzt. Alles gut überstanden. Wir können einfach weitermachen wie bisher, und die Spirale der Überzogenheit kann sich weiter drehen. Aber dann kamen Herbst und Winter mit ihren Corona-Schrecken zurück, und schnell war klar, dass es sehr viel schlimmere Einbußen geben würde als im Frühjahr – sowohl finanziell als auch gesundheitlich.

Wie könnte eine Neuorientierung für das Pustertal aussehen?
Wir müssen die Voraussetzungen für einen nachhaltigen Alpentourismus schaffen. Wir wollen das Authentische, das Herzliche, das unsere Mentalität ausmacht, wieder ins Zentrum stellen. Dazu gehört auch, dass wir wieder mehr auf Qualität anstatt auf Quantität setzen. Die Zeit ist reif dafür. Das haben auch die Menschen in der Region gespürt. Wir haben zwar Soforthilfe auf finanzieller Ebene geboten, aber es wurde immer klarer, dass wir einen Plan für einen Neubeginn brauchen – und zwar einen gemeinsamen Plan. Deshalb haben wir zu dessen Ausarbeitung auch alle eingeladen. Grundlage für die Arbeit war eine umfassende Befragung aller regionalen Player: Arbeitnehmer, Unternehmer, Sozialpartner und politische Vertreter. Mehr als 1300 Statements waren das Ergebnis und wurden zur breiten Datenbasis für die systemische Auswertung und Analyse. Die daraus abgeleiteten zentralen Themencluster für den Wirtschaftsstandort Pustertal führten im Dialog mit Vertretern der unterschiedlichen Stakeholder zur Erarbeitung eines Vision Papers. Darin ging es um Fragen wie: Wofür stehen wir als Pustertal? Was macht uns aus? Worauf setzen wir? Wie begegnen wir der Krise? Wie schaffen wir es, mit dem Wandel umzugehen?

Haben Sie einen gemeinsamen Nenner gefunden?
Es hat sich herausgestellt, dass die Menschen schon ein relativ einheitliches Zukunftsbild haben. Nachhaltigkeit ist kein Lippenbekenntnis mehr. Die Pusterer wollen ihre Umwelt und ihre Landschaft schützen und stärker auf Lokalisierung setzen – ohne dabei abgeschottet und eingeigelt zu sein. Wir wollen unseren internationalen Fokus behalten, uns aber wieder auf lokale Werte besinnen. Und wir sind sicher, dass das mit dem unglaublichen Potenzial, das wir haben, auch funktioniert. Die Krise hat auch gezeigt, dass viel positive Energie vorhanden ist. Die Menschen im Pustertal gelten als zielstrebig, beflissen, hartnäckig, sie lassen sich nicht unterkriegen – typische Merkmale eines Bergvolks mit allen Vor- und Nachteilen. Eine klare Konsequenz der eigentlich aufgezwungenen Entschleunigung ist die Entscheidung, dass wir uns künftig gegen »Overtourism« stark machen. Unsere Gäste kommen ins Pustertal, um sich zu erholen und eine unvergessliche Urlaubszeit zu verbringen. Es geht einfach nicht, dass Gäste stundenlang im Stau stehen und manche Täler sogar gesperrt werden, weil zu viele Menschen dort sind. Die ganze Hektik ist gleichbedeutend mit unachtsamem Umgang und Übernutzung der Ressourcen, sowohl der Umwelt als auch der Menschen.

Waren Sie überrascht darüber, welche emotionalen Hintergründe sich bei dem Thema gezeigt haben?
Das Thema Emotionen hat uns überwältigt. Zunächst wollten wir eigentlich Lösungen im Außen finden – und dann kam das Zukunftsinstitut mit einem Fragebogen, in dem es um persönliche Gefühle wie Stolz, Scham, Mitgefühl oder sogar Schadenfreude geht. Der Fragebogen war nicht einfach auszufüllen. Man muss bereit sein, sich seine Emotionen zunächst einmal bewusst zu machen und dann auch noch preiszugeben und mit anderen zu teilen!

Inzwischen gibt es ein Handbuch zum Projekt »Neuland Pustertal«. Wie kann es bei der Umsetzung einer neuen Vision für die Region helfen?
Mit Unterstützung des Zukunftstinstituts wurden die für das Pustertal relevanten Trends und Megatrends identifiziert und die Tools des Zukunftsinstituts genutzt, um einen Leitfaden für die Unternehmen im Pustertal zu entwerfen. Und nur vier Monate später konnten wir bereits ein 92-seitiges Arbeitsbuch präsentieren, das es jeder Unternehmerin und jedem Unternehmer in der Region ermöglicht, die Zukunft des eigenen Betriebs im Einklang mit der gemeinsamen Vision des Pustertals zu gestalten. Das Arbeitsbuch mit praktischen Übungen hilft den Pusterern dabei, ihre gemeinsame Vision umzusetzen und generell mit Trends und Megatrends an ihrer Zukunft zu arbeiten.

Ein dickes Arbeitsbuch ist eine Herausforderung. Wie haben Sie mittelständische Unternehmer dazu bekommen, sich damit zu beschäftigen?
Wenn alles läuft, ist man nicht angetan, sich Alternativen zu überlegen, was man ändern und verbessern könnte. Durch den Lockdown kam dann mit einem Mal ein erzwungenes Innehalten. Viele Menschen haben diese Zeit als wohltuende Entschleunigung empfunden. Man hatte plötzlich Zeit für sich, für die Familie, für Freunde. Diese Situation hat die Krise als den Moment gezeigt, in dem man ein neues Bild für die Zukunft entwickeln kann. Und plötzlich lernten auch alle, sich mit neuen Techniken und Kommunikationsmöglichkeiten zu beschäftigen. Das Arbeitsbuch ist nur ein weiterer Schritt in diese Richtung. Es ist im Übrigen ein interaktives Medium, denn es wird nur fertig durch die Mitarbeit der Leser und Leserinnen. Es ist leicht zugänglich, locker geschrieben und mit extra angefertigten Karikaturen des lokalen Künstlers Peppi Tischler illustriert, die Alltagssituationen humorvoll auf den Punkt bringen. Es gibt Arbeitsaufgaben, Fragestellungen und Anregungen. Wir wollten ein konkretes Produkt, etwas, das speziell von Pustertalern für Pustertaler entwickelt wurde. Das Arbeitsbuch ist das Gegenteil von einem abstrakten Management-Buch. Das war für uns besonders wichtig.

Wie ist das Feedback bislang?
Wir haben bisher Einzelfeedbacks erhalten, die sehr positiv waren, aber auch darauf hinwiesen, dass der ein oder andere Unterstützung bei der Bearbeitung benötigt. Da wir ja im Lockdown keine Veranstaltungen organisieren konnten, haben wir das Handbuch auch nur einzeln nach individueller Beratung vergeben können. Wir planen demnächst aber eine größere Online-Veranstaltung und eventuell auch Online-Work-shops, die die Arbeit am Buch vertiefen können.

Was will die Raiffeisenkasse selbst als Konsequenz aus der Krise und in Hinblick auf eine neue Vision für die Region verändern?
Wir haben zunächst einmal gelernt: Man muss sich nicht unentwegt zu Besprechungen treffen und dazu lange Distanzen überwinden. Man kann zu speziellen Anlässen zusammenkommen und diese Begegnungen bewusster gestalten. Corona hat uns also gezeigt, dass wir dank moderner Technik zwar mit sozialem Verzicht umgehen müssen, aber daraus kein sozialer Verlust entstehen muss. Ohne digitale Medien wären wir tatsächlich abgeschieden gewesen – zu Beginn des Lockdowns durfte man sich tatsächlich nur 200 Meter vom Haus weg bewegen. Bis dahin hat man oft über die »verteufelte neue Technik« geflucht – diese wurde nun zum Segen für viele für uns. Zudem ist auch in unserem Haus durch diese Erfahrung ein anderes Verständnis für Homeoffice entstanden. New Work für viele Menschen ist möglich und nicht nur ein Privileg von wenigen. Wir haben auch gesehen, dass wir uns als Bank noch viel stärker um künftige Aufgaben kümmern müssen. Die Zeit, in der Menschen zu uns kamen, um Geld abzuheben oder Kontoauszüge zu ziehen, wird bald der Vergangenheit angehören. Banken werden künftig andere Schwerpunkte haben. Wir haben schon jetzt Berater und Beraterinnen im Bereich des Familienrechts und bei Erbschaftsangelegenheiten. Gegen den allgemeinen Trend haben wir deshalb auch im vergangenen Jahr acht junge Leute eingestellt, die wir über die klassische Bankausbildung hinaus schulen werden.

Das Interview führte
Susanne Osadnik,
Chefredaktion GCG


Dr. Georg Oberhollenzer. Seit 2020 Geschäftsführer der Raiffeisenkasse (Raika) Bruneck/Südtirol. In Kooperation mit dem Zukunftsinstitut in Frankfurt/Main und dem Südtiroler Beraterunternehmen RCM Solutions hat die Raika das Projekt »Neuland Pustertal« auf den Weg gebracht. Das Ziel: Die Zukunft der Region nach Corona neu zu denken und Tourismus so zu gestalten, dass Nachhaltigkeit mehr als ein Lippenbekenntnis ist.