Wir müssen nicht nur resilienter, sondern vor allem ›antifragiler‹ werden

Christoph Werner
Christoph Werner © KD Busch

Interview
Strategie

Susanne Osadnik

Christoph Werner, Vorsitzender der Geschäftsführer der Drogerie-Kette dm, über Flexibilität in Notzeiten, nachhaltiges Handeln als Teil des Konzern-Selbstverständnisses und den konsequenten Ausbau von Omnichannel Retailing

Drogeriemärkte waren bislang nicht ein einziges Mal direkt von Einschränkungen durch die Corona-Pandemie-Regelungen betroffen. Hat Ihr Unternehmen seinen Wachstumskurs uneingeschränkt fortsetzen können?
Christoph Werner: Das stimmt so nicht ganz: Die beschlossenen Maßnahmen der Bundesregierung sowie der Länderregierungen zur Eindämmung der Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen für den Einzelhandel galten auch für uns – allerdings durften beziehungsweise dürfen wir immer geöffnet bleiben. Dennoch erkennen wir einen Rückgang der Kundenbesuche, insbesondere in Fußgängerzonen, Einkaufszentren, Geschäftsstraßen und an Bahnhöfen. Im Gegensatz dazu kaufen die Menschen bei ihren Einkäufen in unseren dm-Märkten in Fachmarktlagen mehr ein. Da es uns gelungen ist, uns auf die sich verändernden Rahmenbedingungen einzustellen, sind wir bisher relativ glimpflich durch die Krise gekommen. Die Pandemie ist jedoch eher ein Marathon als ein Sprint, und wir befinden uns wahrscheinlich noch weit vor der Ziellinie. Daher sollten wir den Tag nicht vor dem Abend loben.

Ihre Mitarbeiter haben hierzulande nicht ihre Jobs verloren oder mussten in Kurzarbeit gehen. Wie hat sich dennoch ihr Arbeitsalltag verändert?
Die Situation, die wir durch Corona haben, hat ja alle Menschen gefordert. Unternehmen wie auch Bürger. Als Vorsitzender der dm-Geschäftsführung war und ist es meine Aufgabe, die Kolleginnen und Kollegen bei der Bewältigung dieser Aufgabe nach Kräften zu unterstützen. Die Teams in den dm-Märkten tun tagtäglich ihr Bestes, um für unsere Kunden da zu sein. Sie sorgen dafür, dass mehr als zehn Millionen Bürgerinnen und Bürger, die pro Woche ihre Haushalte mit Gütern des täglichen Bedarfs versorgen, bei uns einkaufen können. Wir sorgen mit Abstandsregeln, Mundschutz und mit durchdachten Hygienekonzepten sowie geeigneten baulichen Veränderungen dafür, dass Infektionen in unseren dm-Märkten vermieden werden und Kunden sich bei dm sicher fühlen. Dementsprechend kamen neue Aufgaben für unsere Kolleginnen und Kollegen in den dm-Märkten dazu. Voraussetzung für die Warenverfügbarkeit ist, dass unsere Kolleginnen und Kollegen in den drei nationalen Verteilzentren Waghäusel, Weilerswist und Wustermark die Ware bedarfsgerecht bereitstellen können. Auch sie sind wesentlicher Teil der Wertschöpfungskette, deren Verlässlichkeit entscheidend ist. Neben den Logistikern haben auch unsere Sortimentsverantwortlichen in den Sommermonaten aufgrund der Erfahrungen der ersten Welle und in Erwartung einer möglichen zweiten Welle unser Angebot weiterentwickelt. Wir haben Sortimentsanpassungen vorgenommen, um flexibler und situativer reagieren zu können.

Wie hat sich Corona in Ihren dm-Märkten im Ausland ausgewirkt? Immerhin ist dm in 13 europäischen Ländern – vor allem in Osteuropa – vertreten …
Mit einem Umsatzplus von +5,3 Prozent auf 2,97 Milliarden Euro in Österreich, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Slowenien, Kroatien, Serbien, Bosnien-Herzegowina, Rumänien, Bulgarien, Nordmazedonien und Italien entwickelt sich dm dort weiterhin sehr gut. Auch dort hat Agilität und der große Zusammenhalt in unserer Arbeitsgemeinschaft es möglich gemacht, in weiterer Folge sehr rasch und kundenorientiert auf die oft täglich neuen Rahmenbedingungen zu reagieren. Dabei konnten wir, wie auch in Deutschland, in vielerlei Hinsicht von vorausschauenden Investitionen profitieren – im Sinn von Technik und Ladenbild, im Sinn von Befähigung und Selbstständigkeit der Mitarbeiter, im Sinn von Kundenvertrauen und -verbundenheit, aber auch im Sinn finanzieller Reserven.

Haben Sie im Verlauf der Krise Produkte aussortiert oder neu aufgenommen, die plötzlich gefragt waren (die Desinfektionsmittel ausgenommen)?
Wir entwickeln unser Sortiment stetig weiter und passen es entsprechend der Bedürfnisse unserer Kunden an. So haben wir beispielsweise seit Ausbruch der Pandemie eine stärkere Nachfrage nach Produkten, die gegen beschlagene Brillengläser beim Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes helfen. Wir haben auf die veränderten Kundenbedürfnisse reagiert und unser Sortiment in diesem Bereich erweitert. Darüber hinaus haben wir auch erlebt, dass unser bestehendes Sortiment, insbesondere im Bereich Hygiene, Haushalts- und Reinigungsprodukte oder auch im Bereich Bio-Lebensmittel bei unseren Kunden sehr nachgefragt war, was uns darin bestärkt, für unsere Kunden hier ein relevanter Anbieter zu sein.

Welche Erfahrungen hat man in Ihrem Unternehmen mit bargeldlosem Bezahlen während der vergangenen Monate gemacht?
Zum Schutz unserer Mitarbeiter sowie unserer Kunden empfehlen wir seit Beginn der Pandemie unsere vielfältigen kontaktlosen Bezahlverfahren zu nutzen. Wir bieten neben der kontaktlosen Zahlung per Karte auch zahlreiche mobile Bezahlverfahren wie PAYBACK PAY, Apple PAY, Google PAY an, die sich aus hygienischen Gründen in der aktuellen Situation besonders eignen. Wir beobachten, dass unsere Kunden diese Handlungsempfehlung als sinnvoll erachten und daher vermehrt auf kontaktlose Bezahlmethoden zurückgreifen. Eine Bezahlung mit Bargeld ist aber natürlich auch weiterhin möglich.

Welchen Stellenwert hat der Online-Handel inzwischen bei dm?
Zweifellos haben unter den Einschränkungen der Corona-Verordnungen mehr Menschen als zuvor unseren Online-Shop dm.de oder unsere Mein dm-App zum Einkauf genutzt und deren Vorteile für bestimmte Lebenssituationen entdeckt. Aus diesem Grunde wird der Online-Handel für uns weiter an Bedeutung gewinnen. Wir bei dm gehen derzeit nicht davon aus, dass in unseren Sortimenten Kunden sich überwiegend für Online-Einkauf entschei­den und daher die dm-Märkte meiden werden. Gleichwohl sind wir davon überzeugt, dass das Konzept des Omnichannel Retailing (OCR) für eine zunehmende Anzahl unserer Kunden an Bedeutung gewinnen wird. Aus diesem Grund werden wir OCR bei dm weiter konsequent ausbauen, auch wenn dies für uns aufwändig und anstrengend ist.

Wie hat die Pandemie die logistischen Abläufe in Ihrem Konzern (dauerhaft) verändert?
Wir haben im Bereich Logistik auch von bereits zuvor getroffenen Investitionen profitiert. Bereits seit einiger Zeit optimieren wir unsere Prozesse mittels Künstlicher Intelligenz. So sind wir in der zentralen Logistik einen wesentlichen Schritt vorangekommen, um zentrale Dienstleistungen wesentlich besser auf die örtlichen Gegebenheiten abzustimmen: Durch die Erstellung eines »Digitalen Zwillings« unserer stationären dm-Märkte haben wir die Voraussetzungen geschaffen, um Arbeitsprozesse für unsere Kolleginnen und Kollegen in den dm-Märkten zu verbessern und leistungsfähiger zu machen. Diese Voraussetzungen, kombiniert mit dem in diesem Jahr in Betrieb genommenen hochautomatisierten Verteilzentrum im brandenburgischen Wustermark sowie modifizierten Einsatzplänen in den Verteilzentren, haben dazu geführt, dass wir beispielsweise wesentlich schneller als ursprünglich geplant unsere Leistungen für die Kunden mit der raschen Ausrollung unseres Click & Collect Services »Express-Abholung« in alle dm-Märkte ausgeweitet haben.

Viele Unternehmen stellen zurzeit für das neue Jahr kaum Auszubildende oder auch nur Praktikanten ein. Bei dm werden 1900 junge Leute vom kommenden Jahr an ihre Ausbildung oder ihr Studium aufnehmen. Wie kriegen Sie hin, was andere scheuen?
Unser Ziel ist es, als Arbeitsgemeinschaft für unsere Kunden eine Leistung zu erstellen, die begeistert und dazu führt, dass Kunden sich immer wieder für uns entscheiden. Damit uns dies gelingt, setzen wir auf die Initiativkraft der vielen Menschen in der Arbeitsgemeinschaft. Wir bemühen uns jeden Tag darum, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass Initiativkraft sich entzünden und einbringen kann. Und dazu zählt nun mal auch, jungen Menschen den Start ins Berufsleben zu ermöglichen. Trotz der Herausforderungen rund um Corona bieten wir eine hohe Anzahl an Ausbildungsplätzen an – in einem der über 2.000 dm-Märkte, in den Logistikzentren, bei der IT-Tochter dmTECH oder im dm-dialogicum in Karlsruhe.

Wie werden Ihre eigenen Erfahrungen mit dieser außergewöhnlichen Zeit und ihren Herausforderungen – und auch die Ihrer mehr als 40.000 Mitarbeiter hierzulande – in künftige Unternehmensplanungen einfließen?
2020 hat uns sehr konkret mit den Auswirkungen von VUCA konfrontiert und war damit ein Stresstest für die Menschen, für unsere gesellschaftliche Ordnung und für die Unternehmen. Unter Stress zeigt sich ungeschminkt, wie leistungsfähig und lernfähig wir tatsächlich sind. Auch zeigt sich, inwiefern es uns gelingt, die bei Sonnenschein hochgehaltenen Grundsätze wirklich ernst zu nehmen. Bemerkenswert war für mich zu beobachten, wie reflexhaft der öffentliche Ruf nach einem zentralistischen Krisenmanagement zu vernehmen war und dies auch in der zweiten Infektionswelle noch von den meisten Medien propagiert und gefordert wurde. Ein sachorientierter Dialog über unterschiedliche Lösungsstrategien kam gesellschaftlich daher nicht in Gang. Die daraufhin sich hart bildenden Bruchlinien zwischen als jeweils alternativlos verteidigten Ansichten verliefen quer durch die Gesellschaft und spalteten selbst Familien.

Für dm haben wir folgende Schlüsse gezogen: Die Kolleginnen und Kollegen in der dm-Arbeitsgemeinschaft sind beim Umgang mit VUCA der wesentliche Teil der Lösung. Bei sich dynamisch entwickelnder Sachlage ist es entscheidend, offen und umfassend die aktuelle Einschätzung und Einordnung der Lage in die Arbeitsgemeinschaft zu kommunizieren. Zielsetzungen und Werte müssen so gefasst und kommuniziert werden, dass Kolleginnen und Kollegen deren Sinn nachvollziehen können und diese bei situativen Entscheidungen vor Ort als hilfreich erleben.

Was bedeutet das Akronym VUCA  für Sie, und warum beschäftigen Sie sich damit?
Der Begriff VUCA stammt ursprünglich aus den 1990er-Jahren und beschrieb die multilaterale Welt nach dem Ende des Kalten Krieges. Mittlerweile wird dieser Begriff auch in der strategischen Führung von Organisationen in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen angewendet. VUCA steht für Volatility, Uncertainty, Complexity und Ambiguity. Uns bei dm erschien die Beschäftigung mit VUCA vor allem vor dem Hintergrund der rasant zunehmenden Veränderungsdynamik unseres gesellschaftlichen Umfeldes wichtig, die auch auf die Digitalisierung und die Durchdringung unseres Alltags mit Künstlicher Intelligenz zurückgeführt werden kann. Aber auch wegen der raschen Entwicklung von Blasen und Echokammern in den Sozialen Netzwerken und der damit verbundenen Zunahme von Fragmentierungen von Meinungen und Ansichten. Letztere sind das Gegenteil von Pluralismus und Gemeinsinn und wir erleben deren Folgen als Aggression und Konfrontation in unserer gegenwärtigen Gesellschaft. Mein Fazit: Wir müssen uns auf unerwartete und folgenreiche Ereignisse und Entwicklungen einstellen, um den künftigen Anforderungen als Gesellschaft im Ganzen sowie als Unternehmen im Besonderen gewachsen zu sein.

Wie sehen Ihre langfristigen Strategien für dm in Bezug auf ökologische Fußabdrücke und Ressourceneinsparung bei gleichzeitigem Anspruch »preiswertester« Anbieter zu sein aus?
Für uns bei dm ist nachhaltiges Handeln Teil des Selbstverständnisses, denn Nachhaltigkeit sichert Zukunftsfähigkeit. Und Zukunftsfähigkeit berücksichtigt dm nicht nur in der ökonomischen Dimension, sondern auch im Ökologischen, im Sozialen und im Kulturellen. Gleichzeitig ist es seit vielen Jahren unser Bemühen, für unsere Kunden in ihrem Einkaufsumfeld die günstigste Einkaufsquelle für drogistische Produkte zu sein. Für uns ist das kein Widerspruch. In unserem Sortiment möchten wir unseren Kunden nachhaltigere Alternativen anbieten und einen bewussteren Konsum fördern. Daher entwickeln wir beispielsweise derzeit eine neue Submarke mit neuen innovativen Produkten aus den drogistischen Kernbereichen unseres Sortiments, wie beispielsweise Körperpflege- und Hygiene­produkte, aber auch Wasch- und Reinigungsmittel. Grundlage bei der Entwicklung dieser Produkte bieten jeweils die in Zusammenarbeit mit der Technischen Universität Berlin durchgeführten Ökobilanzierungen von der Rohstoffgewinnung über die Herstellung/Produktion, Logistik, Nutzungsphase bis hin zur Entsorgung des Produkts. Auf deren Basis werden die Neuentwicklungen mit möglichst kleinem Fußabdruck hergestellt. Auf Basis der Erkenntnisse aus der Produktentwicklung wollen wir die Optimierungsmöglichkeiten auf weitere dm-Markenprodukte adaptieren und die Prozesse nach und nach verbessern.

Sie zitierten kürzlich Gerd Gigerenzer, den Direktor des Harding-Zentrums für Risikokompetenz an der Universität Potsdam, der darauf hinwies, dass wir lernen müssen, mit der Ungewissheit zu leben. Wenn die einzige Konstante der Zukunft die Ungewissheit ist, wie führt man dann einen Konzern mit rund 62.000 Mitarbeitern?
Indem wir auf die Selbstführungsfähigkeit der Kolleginnen und Kollegen setzen. Im Hinblick auf den Umgang mit unvorhergesehenen Ereignissen müssen wir diesen die Destruktivität nehmen, indem wir nicht nur resilienter, sondern vor allem »antifragiler« werden. Denn antifragile Systeme zeichnet aus, dass sie durch Störungen – also das Unvorhergesehene – nicht geschwächt werden, sondern in der Auseinandersetzung mit diesen besser werden. Sie werden besser, weil sie die unverhofften Potenziale in der neuen Situation erkennen. Die Eigenschaft anti­fragiler Systeme bringt die folgende Volksweisheit salopp auf den Punkt: »Not macht erfinderisch.« Antifragilität hat die einzigartige Eigenschaft, uns in die Lage zu versetzen, mit dem Unbekannten umzugehen, etwas anzupacken, gedanklich mit ihm zu rechnen. Dieser Maxime folgen wir bei dm, sie ist mittlerweile fester Bestandteil unserer Haltung und damit unserer strategischen Ausrichtung. Wir setzen nicht nur auf Durchhalten, sondern praktizieren bei allen Zieldefinitionen unser bewährtes Anwendungsmuster: Das Gewordene hinterfragen, es umdenken, sodann das Neue kreieren und es in die bestehenden Prozesse integrieren. Dieses stetige Hinterfragen funktioniert nur in einem gegenseitigen Zutrauen und Vertrauen, das wir durch unsere Dialogische Unternehmenskultur in der dm-Arbeitsgemeinschaft fördern. Sehr pointiert formuliert ermächtigt diese Kultur die Menschen zur Selbstorientierung und fördert damit das Prinzip der Führung zur Selbstführung. Ermächtigung braucht es, um in einem Unternehmen mit 2.024 Märkten, drei großen Verteilzentren und vielen weiteren logistischen Knotenpunkten sowie unseren im dm-dialogicum hier in Karlsruhe zusammengeführten Ressorts für die übergreifenden Aufgaben der dm-Unternehmensgruppe einheitliche und lokal angepasste Entscheidungen zu ermöglichen und diese ganz gezielt um- beziehungsweise einzusetzen.

Die Fragen stellte
Susanne Osadnik,
Chefredaktion GCG