Wir wurden regelrecht zu ungeduldigen Konsumierenden erzogen ...

Janine Seitz
Janine Seitz © Martin Joppen Photographie GmbH – martinjoppen.de

Interview
Konsum

Die Trend- und Zukunftsforscherin Janine Seitz über die Fragen, warum Kunden heutzutage immer noch über reine Rabattaktionen angesprochen werden, welche neuen Vertriebskanäle auch nach der Krise noch sinnvoll sind sowie über die junge Generation, die Entwicklung zu achtsamem Konsum weiter treiben wird


Frau Seitz, Sie schreiben, dass eine neue Form der Solidarität den Konsum der Zukunft prägen wird. Wo sehen Sie heutzutage mehr Miteinander?
Auf den ersten Blick scheint die Gesellschaft in der aktuellen Situation eher vom Gegenteil geprägt: Es herrscht eine gewisse Müdigkeit vor, ein gewisser Wunsch nicht mehr in diesem Maße und gefühlt permanent auf andere Rücksicht nehmen zu müssen. Und doch äußert sich diese Ermüdung und Erschöpfung nicht in Rücksichtslosigkeit. Ganz im Gegenteil: Es hat sich eine neue Stufe der Solidarität herausgebildet, weil klar ist, dass die Pandemie – egal wie lange sie jetzt schon andauert – nicht alleine gemeistert werden kann.

Sie gehen davon aus, dass die Menschen nach Beendigung der Pandemie bewusster und sozialer genießen werden. Worauf stützen Sie diese Annahme?
Diese Entwicklung zeigt sich bereits sehr deutlich. Zahlreiche Umfragen belegen, dass vor allem die Bereiche Gesundheit und Ernährung an Priorität gewonnen haben. Nachhaltigkeit spielt eine immer größere Rolle, immer mehr Menschen bevorzugen Bio- oder regionale Produkte, auch die Umweltverträglichkeit von Produkten und Verpackungen wird wichtiger. Hinzu kommt der Wunsch, mehr Zeit miteinander zu verbringen, gemeinsam zu kochen und zu essen. Diese gelernten Verhaltensänderungen werden sich auch nach der Pandemie fortsetzen. Wer mehr selbst gekocht oder auch Kräuter und Gemüse selbst angebaut hat, schätzt diese Tätigkeiten auch weiterhin. Die Krise hat das Essen, die Herstellung von Produkten und eine sorgfältige Auswahl wieder näher an den Menschen herangeführt. Viele Veränderungen und Umbrüche wurden erzwungen oder waren Notlösungen, doch solche, die sich als passend oder sogar besser erwiesen haben, werden auch weiterhin bleiben.

Wenn Ihre Annahme zutrifft, was heißt das konkret für den Handel?
Konkret bedeutet das, mehr Wert auf Nachhaltigkeit zu legen, sowohl auf Produktebene, aber auch als Haltung im Unternehmen zu leben. Neo-Ökologie wird zum wichtigsten Megatrend, der unsere Zukunft prägt. Die Entwicklung zu einem bewussten Konsum lässt sich aktuell sehr gut im Modehandel beobachten. Die Konsumausgaben für Bekleidung und Schuhe sind zurückgegangen. Natürlich wurde mehr online eingekauft. Aber gerade im Bereich der Mode zeigt sich klar, dass ein Großteil des Umsatzes noch immer im stationären Handel gemacht wird und durch die Ladenschließungen letztendlich weniger gekauft wurde. Spontan-Shopping blieb aus und auch die Belohnungsfunktion des Einkaufens konnte weniger praktiziert werden. Das kann sich wiederum zu einer erlernten (erzwungenen) Praktik entwickeln, die auch in Zukunft bleiben wird. Hinzu kommen noch weitere Skandale wie es die Recherche »Sneakerjagd« aufgedeckt hat, nämlich dass zurückgenommene Bekleidung und Schuhe gar nicht wie versprochen recycelt werden, sondern auf dem Müll landen – und zum Teil sogar Neuware vernichtet wird. Das gibt Spontan- oder Frustshopping einen weiteren faden Beigeschmack.
Kaufen um des Kaufens willen und als Frustkompensation wird es künftig nicht mehr geben?
Doch, klar. Auch diese Form des Shoppings wird es noch geben, aber eben nicht mehr so häufig. Bisher konnte man sein schlechtes Gewissen ja immerhin damit beruhigen, dass man kaum getragene Kleidung oder kaum benutzte Produkte über Recycling- oder Spendenboxen, die im Handel aufgestellt wurden, wieder »zurück in den Kreislauf« führen konnte. Aber wenn das natürlich auch nicht den Tatsachen entspricht.

In den USA macht sich gerade der Unwillen der Bevölkerung breit, weil sie infolge der Lieferkettenunterbrechnungen nicht mehr alles sofort bekommen, sondern auf Ware warten müssen. Wie passt das in Ihr Bild eines nicht-kompensations-getriebenen Konsums?
Das ist der Klassiker: Immer wenn wir etwas nicht haben können, wollen wir es umso mehr und meinen, nicht darauf verzichten zu können. Und es ist natürlich schwierig für eine Gesellschaft, die in den letzten Jahren gelernt hat, immer alles jederzeit haben zu können, nun plötzlich darauf warten zu müssen. Wir wurden ja in den vergangenen Jahren mit Same Day Delivery, Instant Shopping und Co. regelrecht zu ungeduldigen Konsumierenden erzogen. Jedes Unternehmen, das dabei nicht mithalten konnte, wurde abgestraft. Also es geht wirklich in die Richtung »die Geister, die ich rief…« Nun sind natürlich die Unternehmen, aber auch die Konsumierenden klar im Vorteil, die zuvor bei diesem Kreislauf des »immer schneller« und der Just-In-Time-Produktion nicht mitgespielt haben.

In Zukunft wird die Konsumkultur immer weniger auf Waren fokussiert sein – und immer mehr auf Resonanzbeziehungen. Was muss man darunter verstehen?
Resonanz beschreibt die Nähe zueinander. Es geht stärker um das Miteinander, es geht darum, ins Gespräch zu kommen, um die Beziehung zwischen Händler und Kunden. Resonanz entsteht vor allem im Austausch, in der Kommunikation zwischen Menschen. Aber man kann auch mit der Umgebung in Resonanz treten, indem man sich beispielsweise in einem Geschäft, in einem Shopping Center wohl und sicher fühlt, da spielt natürlich auch das Thema Shopping-Atmosphäre eine große Rolle. Das reine Kaufen von Waren und Produkten lässt sich durch den Online-Handel mit einem Klick vom heimischen Sofa erledigen, doch Konsumieren beinhaltet mehr als den reinen Kaufakt.

Nach der Corona-Krise wird es für Unternehmen demnach mehr denn je darum gehen, Nähe zu ihren Kunden aufzubauen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen – auch mithilfe technologischer und digitaler Lösungen, die im Kontext der Krise entwickelt wurden, und nun nachhaltig implementiert werden müssen. Wie müssen Handelsunternehmen jetzt die Weichen stellen, um den Anschluss nicht zu verpassen?
Es gilt, sich schon heute stärker der Kommunikation zu widmen als dem reinen Verkaufen. Ich bin allerdings verwundert, dass noch immer die Kundenansprache fast ausschließlich über Rabattaktionen stattfindet – rund um den Black Friday wurde man von all den Schnäppchen beinahe erschlagen. Kommunikation heißt, eben nicht nur auszusenden, sondern vor allem auch zuzuhören. Wer unterschiedliche (digitale) Kanäle nutzt, muss auch verstehen, wie diese funktionieren und sich die Zeit nehmen, diese zu pflegen und Gespräche nicht nur zuzulassen, sondern auch zu fördern und anzuregen. Ich denke, einiges, was während der Krise von Händlerinnen und Händlern ausprobiert wurde, wird auch nicht überleben. Aber: Es gilt, sich bewusst zu machen und dann auch bewusst zu entscheiden, welche neue Technologien oder Kanäle auch nach der Krise sinnvoll sind, um Nähe zu generieren. Das muss allerdings jedes Unternehmen für sich selbst entscheiden auf Grundlage einer Analyse der Zielgruppen beziehungsweise deren Lebensstile.

Wie können die Boutiquenbesitzerin, der kleine Coffee-Shop um die Ecke und der Bastelladen als Familienbetrieb in dieser neuen Konsumwelt mithalten?
An sich sehr gut, weil sie generell ja diese Nähe zu ihren Kunden und Kundinnen meist schon haben und diese nicht über digitale Kanäle aufbauen müssen. Allerdings war es sehr wichtig, auch in den Zeiten der geschlossenen Geschäfte, die Kommunikation mit den Kunden und Kundinnen aufrechtzuerhalten – das wird nicht jedem kleinen Händler oder Familienbetrieb gelungen sein. Aber umso wichtiger ist es, diese Nähe auch in Zukunft in den Fokus zu stellen. Beispielsweise mit kleinen Events in der Boutique, Kooperationen mit anderen lokalen Einzelhändlern oder gemeinsamen Veranstaltungen.

Der Jugend gehört die Zukunft. Werden sie die Treiber dieser Entwicklung sein?
Ja, die jungen Generationen werden die Entwicklung zu einem achtsameren und nachhaltigeren Konsum weiter vorantreiben. So boomen beispielsweise Online-Plattformen für Secondhand-Mode. Dabei heißen die gebrauchten Stücke nicht mehr Secondhand, sondern »preloved« oder »preowned«. Ist es im stationären Laden oft schwierig, ein Kleidungsstück dann auch in der passenden Größe zu finden, bietet der Online-Handel die Möglichkeit, schon vorab nur die Stücke zu filtern, die es in der gewünschten Größe gibt – und natürlich ist die Auswahl von vornherein viel größer. So verlagert sich der Fast-Fashion-Konsum hin zum Preowned-Fashion-Konsum und eben auch zum Tauschen, Ausleihen und Verleihen. Hier entsteht dann Nähe und Kommunikation nicht mehr zwingend zwischen Händler und Konsument, sondern zwischen Verkäuferin und Käuferin. Vor allem die Social-Media-Kanäle spielen hier eine wichtige Rolle bei der Kommunikation.

Wo bleiben die Älteren in dieser Konsumwelt? Immerhin sind mehr als 32 Prozent der bundesdeutschen Bevölkerung über 50 Jahre alt.
Die profitieren von dieser Entwicklung! Denn ein Großteil der erfahrenen Konsumierenden legt besonderen Wert auf Nachhaltigkeit und Qualität der Produkte. Wertigkeit ist ihnen besonders wichtig und sie sind auch häufiger bereit, für Qualität mehr Geld auszugeben. Überspitzt formuliert ließe sich zusammenfassen: Die jungen Generationen stoßen die Entwicklungen an, die älteren Generationen sind diejenigen, die diese Entwicklungen mit ihrer Kaufkraft und ihrer mengenmäßigen Stärke dann in den Mainstream überführen. Während die Jungen darüber sprechen, leben die Älteren einen nachhaltigen Lebensstil.


Das Gespräch führte
Susanne Osadnik,
Chefredaktion Shopping Places*