Zu frühes Aufstehen, zu lange Arbeitszeiten, zu wenig Freizeit

Azubi
Ein weiblicher Azubi räumt unter Aufsicht der Verkäuferin ein Regal um © Robert Kneschke – stock.adobe.com

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Susanne Osadnik

Der Mangel an Fachkräften ist der Dauerbrenner, der die Diskussionen um bessere Arbeitsbedingungen, neue Ausbildungskonzepte und angemessene Bezahlung anheizt – und zwar über alle Branchen hinweg. Überall fehlen Mitarbeiter: im Einzelhandel, in der Gastronomie, im Baugewerbe, im Handwerk und sogar in der IT-Branche, die jetzt Talente aus Litauen anwirbt. Und wie finden die anderen Wirtschaftszweige ihren Nachwuchs?

Sie macht ihren Job gern. Seit vielen Jahren ist sie als Führungskraft bei dem Volldiscounter in Süddeutschland im Einsatz. Schon vor der Pandemie gab es gute und weniger gute Tage. Corona war für sie und ihre Kollegen eine weitere enorme Herausforderung, weil sich die Kunden nur ungern an die neuen Einkaufsregeln halten wollten: Bitte nicht alles aus den Regalen zerren und anfassen, gesperrte Zonen akzeptieren, Abstand halten, Maske tragen. Da gab es häufig zermürbende Diskussionen und so manches Mal musste der Chef eingreifen und die Kunden zum Gehen auffordern. »Das hat er auch konsequent gemacht«, sagt die Abteilungsleiterin, die ihren Namen nicht nennen möchte und wir sie deshalb »Barbara« nennen. »Es gab Zeiten, da wären wir alle am liebsten zu Hause geblieben und jetzt merken wir, wie ausgebrannt wir sind«, sagt sie.

»Man ist ständig in Erklärungsnot«

Aber sie macht weiter. Arbeitsethos nennt man das wohl. Sie gehört zu der Generation, die gelernt hat, ihre Aufgaben zu erledigen und das Privatleben dem Job unterzuordnen – und nicht umgekehrt. Mitarbeiter wie Barbara sind das Rückgrat des Einzelhandels. Einen Krankenschein hatte sie seit 2015 nicht mehr. Damals hatte sie sich bei der Arbeit die Hand gebrochen. Nach zwei Wochen war sie wieder da, weil sonst zu viel Arbeit angefallen wäre.

Sie ist hart im Nehmen, aber die Pandemie hat sie geschafft – auch ohne Infektion. Statt aufatmen und auf eine entspannte Post-Corona-Phase hoffen zu können, geht es nahtlos weiter: Die Lieferengpässe verknappen weiterhin bestimmte Waren, die Inflation beschert stetig steigende Preise – auch bei Artikeln, von denen man es gar nicht annehmen würde. Die Kunden sind unzufrieden und nörgeln, weil alles so teuer wird. »Wir haben allein die Preise für Wachskerzen in diesem Jahr schon fünf Mal erhöhen müssen«, so Barbara. »Da ist man ständig in Erklärungsnot. Aber das erwarten die Kunden halt auch: Sie fragen nach, warum was teurer geworden ist und verdächtigen die Händler, sich selbst auf ihre Kosten zu bereichern.«

Das Personal auf der Fläche ist häufig der Blitzableiter für Konsumentenfrust. Und dann geht es halt schon mal um Kerzen! Warum auch die teurer werden, ist einfach erklärt: Paraffin, das zur Herstellung von Kerzen gebraucht wird, ist knapp und daher auf dem Weltmarkt teuer. Für gewöhnlich beziehen die Hersteller das Paraffin aus Asien, was aufgrund stockender Lieferketten nicht mehr zuverlässig funktioniert. Wer auf die wenigen Vorräte sehr viel hochwertigeren Paraffins in Europa ausweicht, zahlt einen satten Aufpreis – und das jetzt schon. Im Winter dürfte sich das Problem weiter verschärfen.

Neben den Lebensmitteln sind es eben auch viele andere Waren, die sich verteuern, was den Unmut der Kundschaft hervorruft. »Inzwischen müssen wir uns nicht mehr wegen des Maskentragens beschimpfen lassen, sondern wegen der Preissteigerung. Irgendetwas ist immer los«, sagt Barbara.

Nachwuchs im Einzelhandel nicht in Sicht

Dennoch hat sie auch Positives zu berichten: Die Stammkundschaft hat sich als loyal erwiesen und ist wieder zu einem kleinen Plausch nebenbei bereit – kein schnelles »Durch-den-Läden-huschen« mehr. Der Chef hat während der vergangenen beiden Jahre immer auch mit angepackt und Waren eingeräumt oder sich an die Kasse gesetzt, wenn es personell eng wurde – getreu dem Motto: Niemand darf an der Kasse warten müssen!

Das alles hat das Team zusammengeschweißt. Aber das wird nicht so bleiben, ist die 52-Jährige sicher: »Es haben schon einige Kolleginnen gekündigt, andere überlegen, wie lange sie noch bleiben. Und Nachwuchs ist nicht in Sicht.«

Schon vor Ausbruch der Pandemie sei es schwierig gewesen, junge Leute für die Ausbildung als Kaufleute im Einzelhandel zu gewinnen. Nachdem alle mitbekommen haben, wie anstrengend der Job ist, sei es noch schwieriger geworden. Und die, die antreten, bleiben nicht lange. »Wir haben 2021 zehn Auszubildende einstellen können. Damit waren wir erst mal ganz zufrieden«, erinnert sich Barbara, die als Quereinsteigerin in ihrem Job gelandet ist. »Davon sind noch drei Azubis übrig.«

Zu viel Gerenne in dem großen Laden, zu frühes Aufstehen, zu lange Arbeitszeiten, zu wenig Freizeit durch die Samstage, an denen das Hauptgeschäft gemacht wird – die Gründe sind vielfältig, warum junge Menschen ihre Ausbildung im Einzelhandel hinschmeißen. Am Gehalt liegt es selten. Immerhin verdient man im ersten Ausbildungsjahr zwischen 785 und 960 Euro brutto, im zweiten Jahr schon bis zu 1.065 Euro brutto.

Erst die Pandemie, jetzt steigende Preise und die schlechteste Konsumentenstimmung, seit sie gemessen wird. Das stimmt weder Kunden noch Geschäftsleute froh – lenkt aber auch vom Dauerproblem Fachkräftemangel ab, mit dem der Handel zu kämpfen hat.

Laut einer Studie des EHI Retail Instituts vom vergangenen Herbst/Winter geben 80 Prozent der Personalverantwortlichen an, Schwierigkeiten zu haben, Fachpersonal für die Einzelhandelsfilialen zu finden. In der Logistik und der Zentrale sind es 61 und 53 Prozent. Auch bei Ausbildungsplätzen ist die Besetzung von Positionen in den Filialen schwierig: 69 Prozent der Personal-Manager sehen in diesem Bereich ein größeres Problem. Für die Bereiche Logistik und Zentrale sind es nur 30 beziehungsweise 15 Prozent.

Schlechtes Image, miese Arbeitszeiten

Den Grund für fehlendes Personal sehen 58 Prozent der Führungskräfte im Image von Kauf- und Warenhäusern, das durch die Schließungen der Läden im Lockdown nochmals gelitten hat. Dazu kommen miese Arbeitszeiten und nicht allzu gute Bezahlung und aus Sicht der Arbeitgeber mangelnde Qualifikation der Bewerberinnen und Bewerber.

Arbeit gäbe es genug. Und auch Ausbildungsplätze sind in Hülle und Fülle vorhanden. Nach der Ausbildungsmarktstatistik der Bundesagentur für Arbeit entfallen allein auf die beiden Kernbe­rufe des Einzelhandels im April 2022 insgesamt 13,3 Prozent der angebotenen Ausbildungsstellen. Damit nehmen der dreijährige Ausbildungsberuf Kaufmann / Kauffrau im Einzelhandel mit rund 32.400 Ausbildungsstellen und einem Plus von 3,2 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat sowie der zweijährige Ausbildungsberuf Verkäufer / Verkäuferin mit knapp 28.600 Stellenangeboten und damit einem Plus von 26,5 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat wieder die beiden Spitzenpositionen im Ranking ein. Auch der neue Ausbildungsberuf Kaufmann / Kauffrau im E-Commerce verzeichnet mit 1.600 angebotenen Stellen ein Plus von 20 Prozent. Die praxisnahe Alternative zum Studium, die sogenannten Abiturientenprogramme des Handels, rangieren aktuell mit mehr als 10.700 Stellen auf Platz 8 im Ausbildungsmarktranking, was ein Plus von 16,1 Prozent im Vergleich zum Vorjahresmonat bedeutet. Durch das Abiturientenprogramm können hochschulzugangsberechtigte Teilnehmer bis zu drei Abschlüsse in drei Jahren erreichen: Ausbildung, Fortbildung und Ausbilderschein.

Insgesamt bietet der Einzelhandel als große Ausbildungsbranche jungen Menschen 60 verschiedene Ausbildungsbe­rufe sowie Abiturientenprogramme und duale Studiengänge an, heißt es vom  Handelsverband HDE. Dessen Hauptgeschäftsführer Stefan Genth weiß indes auch, dass es massiv an Bewerbern mangelt, die diese Stellen besetzen könnten: »Jungen Menschen muss die Attraktivität der dualen Berufsausbildung deutlich kommuniziert werden. Im Einzelhandel haben mehr als 80 Prozent der Führungskräfte ihre Karriere mit einer Ausbildung begonnen. Die Chancen auf einen Ausbildungsplatz und eine gute berufliche Laufbahn stehen sehr gut.« Der HDE fordert den Ausbau von digitalen Berufsorientierungsangeboten ebenso wie eine verlässliche Berufsorientierung an allen allgemeinbildenden Schulen und bei den Arbeitsagenturen.

Dasselbe dürften auch andere Berufszweige einfordern. Denn im Handwerk, im Baugewerbe, in der Gastronomie – und selbst in der IT-Branche sieht es nicht gut aus, und zwar weltweit.

Das Korn Ferry Institut in Kalifornien, eine Management-Beratung für neue Talente mit Milliardenumsätzen, prognostiziert, dass es uns weltweit an 4,3 Millionen qualifizierten IT-Facharbeitern mangeln wird – und zwar bereits bis 2030. Fachkräfte werden händeringend gesucht, zumal die Digitalisierung weiter fortschreitet und zum Erliegen kommen dürfte, wenn es kaum noch IT-Mitarbeiter gibt.

Die Vereinigten Staaten müssen damit rechnen, dass ihnen bis 2030 aufgrund des Fachkräftemangels in diesem Sektor 162,25 Milliarden Dollar entgehen. China könnten aufgrund desselben Problems bis 2030 Einnahmen in Höhe von 44,45 Milliarden US-Dollar entgehen. Bis 2030 wird Großbritannien aufgrund des Fachkräftemangels fast 9 Prozent des potenziellen Umsatzes des TMT-Sektors (Technologie, Medien und Telekommunikation) nicht realisieren können, wie eine Untersuchung des Korn Ferry Institute ergab.

Selbst die skandinavischen Länder, die aufgrund der wachsenden Zahl erfolgreicher Tech-Start-ups in den vergangenen Jahren zu den Marktführern gehören, sehen sich mit Mangel an IT-Talenten konfrontiert. Laut Swedish IT&Telecom Industries wird es in Schweden bis 2024 voraussichtlich 70.000 unbesetzte Stellen im Technologiesektor geben. Und in Finnland sind einer Studie zufolge 66 Prozent der offenen Stellen Gesuche     für Software-Entwickler. Mindestens 95 Prozent der finnischen IT-Unternehmen planen daher, Mitarbeiter aus dem Ausland einzustellen.  

Könnten baltische IT-Experten die Lücke schließen?

Pekka Nebelung, COO des finnischen Unternehmens Jobilla, das von »The Silicon Valley Review« zu einem der 50 weltweit führenden Unternehmen erklärt wurde, sucht im Baltikum nach neuen Mitarbeitern. In Litauen, das eines der am schnellsten wachsenden Ökosysteme für Tech-Start-ups in der Region hat, wurden bereits etwa 15 Spezialisten eingestellt. »Die Nachfrage nach IT-Spezialisten aus dem Baltikum steigt ständig. Deutsche oder skandinavische Unternehmen sind daran interessiert, Leute aus dem Baltikum einzustellen, denn hier sind die IT-Standards sehr hoch, sodass es möglich ist, sehr qualifizierte Leute einzustellen«, sagt Nebelung.

Diana Blažaitien, Geschäftsführerin von Soprana Personnel International,  einem Unternehmen, das sich auf Lösungen für die Personalbeschaffung und -vermietung spezialisiert hat, konnte feststellen, dass es in den vergangenen  Monaten mehr als 35 Prozent mehr Anfragen von skandinavischen und deutschen Unternehmen gab, die in Litauen und Lettland IT-Spezialisten suchten. »Unternehmen kommen zu uns, weil sie in ihren eigenen Ländern keine Fachkräfte finden, die ihren Anforderungen entsprechen, und weil ähnlich qualifizierte Fachkräfte dort höhere Gehälter verlangen«, so  Blažaitien.

Hausgemachte Probleme am Bau

Wo das Baugewerbe demnächst seine Arbeitskräfte finden wird, ist mehr als fraglich. Dem Bau in Deutschland droht ein »Burnout«. Davor warnt die Indus­triegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU). Allein der Wohnungsbau mit Neubau, Umbau, klima- und seniorengerechter Sanierung sei ein Mammutprogramm für die Firmen, das mit den vorhandenen, ohnehin voll ausgelasteten Kräften kaum zu schaffen sei. »In nahezu allen Betrieben der Bauwirtschaft gibt es ein Arbeitskräfte-Vakuum … Das Nadelöhr für mehr Wohnraum, für besseren Klimaschutz und sinkende Mieten sind die Fachleute auf dem Bau«, sagt Carsten Burckhardt, Bundesvorstandsmitglied der Gewerkschaft und dort für die Bauwirtschaft und Handwerkspolitik zuständig.

Trotz stetig steigender Gewinne hätten es viele Baufirmen in den vergangenen Jahren versäumt, die Arbeit in der Branche attraktiver zu machen. »Das rächt sich jetzt«, so Burckhardt. Die Knappheit an Arbeitskräften werde zunehmend zum Risiko für den Bau – und damit auch zu einem erheblichen Problem für die Politik, die sich mit den Wohnungsbau- und Klimazielen für Gebäude ein ehrgeiziges Programm vorgenommen habe.

Die IG BAU verweist auf aktuelle Zahlen des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Danach verzeichnete die Bauwirtschaft im ersten Quartal dieses Jahres bundesweit 191.000 offene Stellen – und damit fast vier Mal so viele wie noch im Jahr 2010, als 52.000 Baubeschäftigte fehlten. Zum Vergleich: In der Gesamtwirtschaft hat sich die Zahl offener Stellen im selben Zeitraum verdoppelt. »Es ist bezeichnend und besorgniserregend, dass es den Firmen der Bauwirtschaft so schwerfällt, nötiges Personal zu finden und langfristig zu halten«, so Burckhardt. Dabei stehe die Branche nach zehn Boom-Jahren gut da. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes wuchs der Umsatz im Bauhauptgewerbe im ersten Quartal 2022 um 26 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.

Die größten Probleme der Bauunternehmen seien nicht die derzeit steigenden Materialpreise oder Energiekosten, so Burckhardt. Die würden an die Kunden weitergegeben. Projekte verzögerten sich dann um einige Wochen. »Die eigentlichen Probleme sind allerdings hausgemacht. Über Jahre hinweg haben die Unternehmen der Bauwirtschaft, vor allem im Handwerk, die Einkommen ihrer Beschäftigten gedrückt. Sie haben sich kaum darum gekümmert, dass Tarifverträge eingehalten werden. Viele sind aus den Arbeitgeberverbänden ausgetreten. Dann haben sich die Firmen bei den Preisen gegenseitig unterboten und einen Dumping-Wettbewerb auf dem Rücken der Beschäftigten ausgetragen«, kritisiert IG BAU-Bundesvorstand Burckhardt.

Im Handwerk sieht es vielleicht auch deshalb nicht besser aus: Deutschlands Handwerksbetriebe suchen eine sechsstellige Zahl von Mitarbeitern. Bei den Arbeitsagenturen sind nach Angaben des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH) derzeit 150.000 offene Stellen gemeldet. Da nicht alle Betriebe unbesetzte Stellen an die Agenturen melden, geht der Verband von schätzungsweise rund 250.000 fehlenden Handwerkern aus.

Energiewende kann am Fachkräftemangel scheitern

Der Fachkräftemangel war eines der beherrschenden Themen auf der Münchner Internationalen Handwerksmesse, die im Juli zum ersten Mal seit 2019 wieder stattfinden konnte. »Wenn wir bei der Nachwuchs- und Fachkräfteversorgung nicht schnellstmöglich gegensteuern, droht nicht nur ein Scheitern der Energiewende, sondern auch ein massiver Wirtschaftseinbruch, ein Verlust an Wertschöpfung und Wohlstand«, sagte Franz Xaver Peteranderl, Präsident des Bayerischen Handwerkstags, als einer der Gastgeber.

Der Personalmangel hemmt nicht nur das Wirtschaftswachstum, sondern gefährdet die politischen Ziele der Bundesregierung, wie nicht nur Handwerksfunktionäre seit Jahren warnen. Ein Beispiel: In Deutschland gibt es etwa 43 Millionen Wohnungen, bis 2040 sollen sie komplett klimaneutral werden. Da ein großer Teil des Gebäudebestands bislang nicht energieeffizient ist, gehen Fachleute von einem jährlichen Umbaubedarf von an die zwei Millionen Wohnungen aus. Die Frage ist nur: Wer soll das machen?


Ein Beitrag von
Susanne Osadnik,
Chefredaktion
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